Von Parerga und Paratexten: Max Schaffers Ränder zwischen Schrift und Bild
1. Schaffers Artschwager
Nachdem Richard Artschwager im Herbst 1978 eine Einzelausstellung mit dem Titel Beschreibungen, Definitionen, Auslassungen im Hamburger Kunstverein installiert hatte, folgte er der Tradition, für die Institution eine Jahresgabe zu fertigen. Sie setzte seine 1968 begonnene Serie fort, die er blps betitelte. Damit war das Wort Blips abgekürzt, das auf Deutsch ebenso lautmalerisch „Blinker“ oder „Piepser“ bedeutet. Artschwagers blps waren räumliche Markierungen, deren Form, so die Beschreibung des Künstlers, an eine der Länge nach durchgeschnittene Knackwurst erinnerte. Entsprechend bestand die Jahresgabe aus einem vollrunden, mattschwarz lackierten, hölzernen Hybrid aus Kugel und Zylinder, dessen Längsseite zwanzig Zentimeter maß. Sobald es mit der beigefügten Schraube diagonal an die Wand montiert war, erschien es wie ein aufgeblasener Griff oder Knauf, der sich in der Tür geirrt hatte.
Diese Jahresgabe begleitete ein „Zertifikat“, wie das oberste Wort auf dem Schriftstück bekanntgab. Darauf war zentral der groß gesetzte Name des Künstlers zu lesen, darunter, wieder kleiner, Titel und Jahr. Am Fuße des Blattes stand: „Jahresgabe/ für den/ Kunstverein in Hamburg/ Auflage: 24 Exemplare/ Exemplar:“. Der gesamte Text war mittig platziert und geriet nur dann ins Wanken, sollte Artschwager selbst beim Verkauf eines Werks die Nummer des Exemplars nach dem Doppelpunkt handschriftlich ergänzen und das Blatt signieren. Durch die Schlichtheit der Anordnung, die Typografie der Schrift, die Stärke des Papiers sowie seine Größe, die einem Taschenbuch gleichkam, wirkte dieses Zertifikat wie von Willi Fleckhaus, dem Gestalter damaliger Publikationen des Suhrkamp Verlags, entworfen.
Kunsthistorisch betrachtet, war das Ganze zu diesem Zeitpunkt weder neu noch ungewöhnlich. Denn die Zertifizierung von Kunst und die Gestaltung von Zertifikaten hatten sich 1978 in diesen Formen und Formaten für vervielfältigte Kunst bereits etabliert. Indem das Zertifikat sogenannte Paratexte wie den Personennamen, den Werktitel, das Entstehungsjahr, die Institution oder die Auflage – vergleichbar den ersten Seiten eines Buches – auflistete, wurde es zum Beiwerk (griechisch: Parergon) für das Werk (Ergon), das die Künstlerin oder der Künstler nicht unbedingt selbst anfertigen musste, sondern deren Produktion er oder sie an andere delegieren konnte. Dies bedingte zum einen eine künstlerische Haltung, welche die Idee von Kunst als erschwinglicher Ware begrüßte und die sowohl Pop Art als auch Minimal Art in ihrer je verschiedenen Aufhebung der Grenzen zwischen hoher und minderer Kunst bedachten. Zum anderen verfolgte ein solches Vorgehen monetäre Interessen, die der wachsende Markt für Gegenwartskunst zusätzlich unterstützte. Die Jahresgaben, welche die deutschen Kunstvereine in jeder Adventszeit anboten, dienten so gesehen gleichermaßen dem demokratischen Ideal wie dem finanziellen Eigennutz.
Artschwagers Zertifikate wären also kaum der Rede wert, hätte Till Krause nicht einige Exemplare, teils signiert, teils blanko, vor Jahren aus dem Abfall des Hamburger Kunstvereins gerettet. Auf Seidenpapieren zwischen den Zertifikaten hatte sich im Laufe der Zeit die Druckerschwärze einzelner Buchstaben abgelagert, sodass deren fragile Transparenz zum matten, wenn nicht blinden Spiegel des Schriftbilds werden konnte. Leicht dechiffrierbar blieben darauf nur die Worte „Zertifikat“ und der Künstlername. Schaffer nun, dem Krause seinen gesamten Fund 2016 überreichte, ließ die Seidenpapiere mit der bedruckten Seite der gespiegelten Buchstaben nach Oben rahmen, nannte sie Untitled (Blip) und stellte sie der Bremer Gesellschaft für Aktuelle Kunst als – vermeintliche – Jahresgabe zur Verfügung, nachdem er dort im Sommer seine Einzelausstellung Power of Style installiert hatte.
Als vermeintlich sind die Jahresgaben aus mehreren Gründen zu charakterisieren: Zum einen fehlt ihnen das Potenzial massenhafter Reproduzierbarkeit. Es sind keine objekthaften Multiples, wie sie Artschwager noch fertigen und von Zertifikaten begleiten ließ, sondern jedes ist verschieden, jedes entspricht einem Original. Die insgesamt sechs Blätter, eines davon ein Künstlerexemplar, sind zwar auch durch technische Reproduktion entstanden. Das einzelne Seidenpapier jedoch ist insofern originär, als es sich eben nicht um dieselbe, sondern nur die gleiche Zertifikat-Vorlage handelt. Ihre besondere Qualität beziehen diese Einmaldrucke (fachsprachlich: Monotypien) aus dem Umstand, dass sie gerade ohne Autor und Intention, von selbst und aufgrund von Dauer entstanden sind.
Zum anderen sind sie gar nicht käuflich zu erwerben. Schaffer beschloss, das Wort Jahresgabe wörtlich zu nehmen: Die GAK überlässt nun Kaufinteressierten ein Untitled (Blip) unentgeltlich für genau ein Jahr als Gabe, dann wechselt es den Besitzer. Diese Abmachung ist in einem Vertrag festgelegt, der von zukünftigen Leihnehmerinnen und Leihnehmern zu unterzeichnen ist. Der Vertrag verhält sich damit zu den gerahmten Seidenpapieren wie die Zertifikate von Artschwager zu seinen Blips. Aus dem Zertifikat als Parergon ist – und das ist das Entscheidende – nun ein Ergon, ein Werk, geworden, das ein neuartiges Parergon, nämlich der Vertrag, begleiten wird. Es ist beachtlich, wie Schaffer die damit verbundenen Wechselspiele zwischen Reproduktion und Produktion, Gefundenem und Weitergegebenem, Entnahme und Gabe, Illegitimität und Legalität behandelt und wie weit er sie sowohl sinnbildlich als auch buchstäblich treibt.
2. Beschreibungen, Definitionen, Auslassungen
Parergon und Ergon, Paratext und Text, Schriftbild und Bilderschrift sind Begriffe, die aus verschiedenen kultur- und geisteswissenschaftlichen Kontexten stammen. Der Philosoph Jacques Derrida dekonstruierte Ende der 1970er Jahre anhand des Terminus Parergon die Theorie von Immanuel Kant und analysierte auf einschlägige Weise die Ambivalenzen an den Rändern von Kunst – von den Gewändern um Skulpturen über die Rahmen von Bildern bis zu den Titeln von Werken. Letztere zählte der Literaturwissenschaftler Gérard Genette zu den „Paratexten“. Formuliert im gleichnamigen, 1989 im Suhrkamp Verlag erschienenen Buch, das im französischen Original „Seuils“ – zu Deutsch: Schwellen – heißt, verstand Genette darunter alles, was den Text erst zum Buch macht: der Umschlag mit dem Titel, dem Namen des Autors und des Verlags, das Vorwort oder das Nachwort, die Danksagung wie das Register. Doch auch weiter vom Buch Entferntes kann zu den Paratexten zählen, etwa der werbend ankündigende Pressetext oder die verschriftlichte Kritik im Nachtrag.
Die Begriffe Schriftbild und Bilderschrift basieren weniger auf einer Theorie, die an große Namen gebunden ist, vielmehr gehen sie auf ein interdisziplinäres Verständnis von literarischer und bildender Kunst zurück. Als zeitgenössisches Beispiel für ein Schriftbild kann der Tag gelten. Er bezeichnet im Graffiti-Jargon ein Signaturkürzel, hinter dem sich das Pseudonym eines Writers verbirgt. Als altmodisches Beispiel für eine Bilderschrift kann der Rebus gelten. Hier ergibt der Lautwert von Buchstaben, die aus visuellen Darstellungen hervorgehen, einen davon abweichenden Sinnzusammenhang: Das Bild eines scheuen Waldtieres, eines Apostrophs und eines Straßenfahrzeugs für etliche Personen ergeben selbstbezüglich die Schriftzeichenformation RE’BUS. Tag und Rebus gemeinsam ist nicht nur ein Bild-Text-Verhältnis. Darüber hinaus dienten beide visuelle Codes – sozialhistorisch betrachtet – besonders in Umbruchzeiten und Krisenregionen als Geheimsprache, die nur geübte Augen enträtseln konnten und die es somit erlaubte, geltende Regeln, Gesetze oder Zensuren zu unterwandern.
Parergon und Ergon, Paratext und Text, Schriftbild und Bilderschrift sind ebenso die Begriffe, die Schaffers Werk näher fassen lassen. Als semantische Klammern verstanden, eröffnen sie zugleich Spielräume der Interpretation: Dem Künstler gelingt es, auch zwischen den jeweiligen Begriffspaaren eine „Neuverortung“ (Schaffer) mit den Mitteln der Kunst vorzunehmen, die zentral für Power of Style, sogar für sein gesamtes Œuvre zu stehen vermag. Schaffer betrachtet die Ränder von Kunst und hat dabei gleichermaßen das Werk, die Ausstellung und die Institutionen im Blick, wenn er Konstellationen verschieben, Medien verkehren, Texte zwischen Räumen sichtbar und Bilder zwischen Zeilen lesbar machen lässt.
3. Power of Style
Es kommt also nicht von ungefähr, dass eine der ausgestellten Serien das Wort Parergon im Titel (und damit in einem Paratext) führte: Parergon (Bremer Hängung I-VII). Schaffer hatte sie scheinbar beliebig in den Räumen installiert, an Wänden, neben Heizungsrohren, oberhalb von Stromkabeln, gar auf Regale geschraubt, teils anstelle der „neuverorteten“ Arbeitsplätze platziert. Sie zeigte auf Fotoleinwänden ursprünglich analog produzierte, vergrößerte Handzeichnungsdetails, deren Digitaldruck der Künstler per Online-Order und Zufallsentscheid hinsichtlich Format und Bildausschnitt in Auftrag gegeben hatte. Die Zeichnungen selbst stammten selbstredend nicht von Schaffer, sondern von einem Kurator des benachbarten Museum Weserburg, der sie während Telefonaten beiläufig (als Parergon) auf Email-Ausdrucken oder Leihvertragskopien gekritzelt hatte.
Diesmal hatte Schaffer selbst die Papiere im öffentlichen Raum nahe der GAK gefunden – gewissermaßen als Street Art wider Willen. Die teils kunstvollen, teils kunstlosen Doodles des Kurators anonymisierte der Künstler, indem er sie weitgehend von Text befreite. Eine Fährte zur Identität des Zeichners legt selbst der Titel, gemeinhin verlässliches Indiz für Intention wie Interpretation, kaum noch. Er spielt stattdessen auf die „Petersburger Hängung“ an. Dieser Ausdruck steht für das Dicht an Dicht von Gemälden an Museumswänden, das bei Parergon (Bremer Hängung) mit Verweis auf den Schaffensprozess durch das Über und Über von Referenzen auf Autorschaft (der Kurator, der Künstler, der Computer) und auf Technik (Zeichnung, Digitaldruck, Leinwand, Wandinstallation) ersetzt ist. Nahe liegt ebenso der buchstäbliche Verweis auf den Ortsbezug zur Hansestadt Bremen.
H.B. war ein weiteres, speziell für Power of Style konzipiertes Werk, das Theorie und Praxis von Paratext wie Parergon aufrief: Es bestand aus einem Auszug aus der kurz zuvor erschienenen Pressemitteilung, die Touristenführer auf Ausflugsbooten verlasen, sobald sie die GAK passierten. Bei geöffnetem Fenster bestand die Möglichkeit, dass die Besucherinnen und Besucher von dieser künstlerischen Verbindung von Innenwelt und Außenwelt Notiz nahmen. H.B. schenkte die Aufmerksamkeit in mehreren Hinsichten den Rändern der Ausstellung – zeitlich zwischen der Pressemitteilung und dem Ausstellungsereignis, räumlich zwischen Drinnen und Draußen, geografisch zwischen Wasser und Land, wahrnehmungsbezogen zwischen Hören und Sehen. Doch blieb das ohnehin nur sekundenlange Werk wohl auch selbst für Personen, die um seine Existenz wussten, unvernommen, zu selten fuhren die Boote am Gebäude vorbei. Wer den Titel nicht als Kennzeichen von Bremen, sondern als Initialen von Honoré de Balzac las, an dessen Geburtstag Power of Style eröffnete, mag in H.B. das so unerhörte wie unsichtbare, unbekannte Meisterwerk erblicken, das Balzac in seiner gleichnamigen Erzählung noch als künstlerischen Unglücksfall schilderte.
Neben Parergon (Bremer Hängung) und H.B. operierte auch True 2 the Game (I-VII) mit einem Paratext, der im Vergleich zur Pressemitteilung am gegenüberliegenden Ende der Ausstellungslaufzeit stand: Schaffer ließ Gästebucheinträge vergangener GAK-Präsentationen graphologisch untersuchen und collagierte diese Gutachtentexte in zurechtgeschnittene Passepartouts, die ihrerseits vergrößerte Details von Farbfotografien aus Graffitimagazinen zeigten. In diese subkulturelle, bildkünstlerische Rahmung des Niederen gebettet, waren die Urteile über einzelne Privatpersonen zu lesen, die irgendwann einmal ihr Urteil über die ausgestellte Kunst schriftlich veröffentlicht hatten. Auf der semantischen Ebene des Urteilens wie auf der formalen Ebene des Rahmens steigerte sich die Verkehrung von Text und Bild, High und Low, Öffentlichkeit und Privatheit, Interpretation und Kritik hier einmal mehr zum Verwirrspiel, das benennbare, anonymisierte und namenlose Akteure in das bemerkenswert schlüssige Konzept mit merkwürdig zufallsoffener Methodik einschoss.
Das Werk allerdings, das die Aspekte von Parergon, Paratext und Schriftbild in den Kontexten der Bremer Ausstellung besonders eindringlich zur Anschauung wie zur Sprache brachte, war die Jahresgabe, die keine ist. Denn Untitled (Blip) kann umso exemplarischer für Power of Style insgesamt stehen, gerade weil es eben nicht als dortiges Exponat sichtbar war: Wie die Kommentare im Gästebuch, auf denen True 2 the Game (I-VII) basiert, ist das Werk Schaffers Nachtrag und damit ein Beiwerk. Es kehrt dadurch wieder zu derselben Bestimmung als Parergon zurück, die Artschwagers Zertifikat innehat. Diese Sicht auf die Prozesse der Authentifizierung und Institutionalisierung von Kunst deckt Ambivalenzen auf, die an Rändern und Rahmungen statthaben und dort Räume entfalten, die der Künstler erkundet.
So stellt das Spiegelschriftbild von Untitled (Blip) einen Wechsel nicht nur der Leserichtung vom regelhaft richtigen Rechts zum regelwidrigen linkischen Links vor: Es ist, so Schaffers eigene Beobachtung, als wähnte man sich in einem Buch mit dem Rücken zum Textkörper und blickte durch die transparente Seite des vorgeschalteten Paratextes nach Draußen. Die Betrachtung der Schrift reflektiert das Lesen des Bildes – und umgekehrt.
Tobias Vogt